Guten Abend, meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Österreicherinnen und Österreicher!
Heute, am 26. Oktober 2015, feiert Österreich den 60. Geburtstag unseres Neutralitätsgesetzes.
Ich bin fest überzeugt, dass damals – im Oktober 1955 – eine gute Entscheidung getroffen wurde, die sich seither in vielfacher Hinsicht bewährt hat.
Die Österreichische Neutralität ist für mich Ausdruck einer Friedensgesinnung, die den Krieg nicht als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln betrachtet und die Hauptaufgaben unseres Bundesheeres in der Landesverteidigung, in der Beteiligung an internationalen Friedensaktionen und in der Unterstützung unserer verfassungsmäßigen Einrichtungen sieht.
Liebe Österreicherinnen und Österreicher!
In diesen Tagen beschäftigt uns ein sehr sensibles Thema ganz besonders, nämlich die Flüchtlingsbewegung.
Ihre Wurzeln liegen vor allem in den kriegerischen Konflikten des Mittleren Ostens, insbesondere in Syrien.
Dass Menschen aus dieser Hölle, aus diesem gefährlichen Chaos fliehen und sich und ihre Familien in Sicherheit bringen wollen, ist verständlich.
Daraus entstehen große und schwierige Probleme für ganz Europa. Immer wieder wird die Frage gestellt, ob es sich bei diesen 10.000en, die allein in den letzten Tagen und Wochen die Grenzen unseres Landes überschritten haben, wirklich nur um asylberechtigte Flüchtlinge handelt oder wie viele davon einfach die Gelegenheit beim Schopf packen wollen, um in ein Land mit höherem Lebensstandard auszuwandern.
Darauf darf ich folgende Antwort geben:
Im Jahr 2015 werden nach aktuellen Schätzungen unserer Behörden mehr als 500.000 Menschen als Flüchtlinge das Staatsgebiet der Republik Österreich betreten.
Der weitaus überwiegende Teil davon – wahrscheinlich mehr als 85% -sind allerdings Durchreisende, die unser Staatsgebiet innerhalb weniger Tage wieder verlassen.
Etwa 80.000 werden heuer einen Asylantrag stellen oder haben ihn schon gestellt. Diese Anträge werden sorgfältig geprüft und nur wenn wirklich ein Asylgrund im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegt, dann erhalten sie Asyl.
Meine Damen und Herren!
Natürlich gibt es viele Österreicherinnen und Österreicher, die sich Sorgen machen, Unsicherheit verspüren und sich vor Belastungen fürchten, die mit dieser Flüchtlingsbewegung verbunden sind.
An diese Österreicherinnen und Österreicher wende ich mich mit besonderer Aufmerksamkeit und bitte Sie Folgendes zu bedenken: Es handelt sich bei Asylsuchenden, die sich in einer Notsituation befinden, nicht um eine anonyme Masse, sondern um einzelne Menschen mit Namen, Gesichtern und individuellen Schicksalen.
Vielleicht hilft es, wenn wir – wenigstens einen Augenblick lang -versuchen uns in ihre Lage zu versetzen.
Es ist wahrscheinlich die wichtigste Errungenschaft unseres vom Christentum und von der Aufklärung geprägten europäischen Menschenbildes, dass es von der Gleichwertigkeit aller Menschen und der gleichen Menschenwürde ausgeht. Dieser Grundsatz darf auch in schwierigen Situationen nicht über Bord geworfen werden.
Gleichzeitig möchte ich aber mit aller Deutlichkeit klarstellen, dass wir von Menschen, die in Österreich Zuflucht suchen, erwarten, dass sie europäische Werte und unsere Rechtsordnung beachten und respektieren.
Das ist für ein reibungsloses Zusammenleben unverzichtbar.
Liebe Österreicherinnen und Österreicher!
Eine wichtige Frage lautet: Wie wird es auf diesem Gebiet weitergehen?
Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass uns das Flüchtlingsthema auch in Zukunft stark beschäftigen wird.
Ich hoffe aber, dass der Zeitpunkt näher rückt, wo der Bürgerkrieg in Syrien zumindest eingedämmt, werden kann, weil immer mehr Staaten erkennen, wie viele Übel und Probleme dieser mörderische Konflikt zur Folge hat.
Ich gehe auch davon aus, dass die geplante Einrichtung von Aufnahmezentren für Flüchtlinge an den Außengrenzen der Europäischen Union im kommenden Jahr Wirkungen erzielen wird, dass die Außengrenzen dadurch besser kontrolliert werden und wir auch einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge in Europa näher kommen.
Meine Damen und Herren!
Lassen Sie mich auch auf das Bedürfnis unserer Bevölkerung nach Sicherheit eingehen.
Bilder, die uns zu diesem Thema in den letzten Tagen in den Medien erreichen, wirken für viele Menschen verstörend und machen Angst. Meine Antwort lautet: Wir treten aus fester Überzeugung dafür ein, Flüchtlingen menschenwürdig zu begegnen. Aber wir können und werden nicht darauf verzichten, ein souveräner Staat zu sein, der die Sicherheit unserer Bürger garantiert.
Unsere staatlichen Institutionen können das.
Dass aber der Einsatz staatlicher Machtmittel immer nur unter sorgfältiger Anwendung des Grundsatzes der Angemessenheit und der Verhältnismäßigkeit erfolgt, ist in Österreich eine bewährte Praxis und unterscheidet einen demokratischen Rechtsstaat von autoritären Systemen.
Zum Abschluss darf ich noch etwas sehr Erfreuliches sagen:
Sehr viele Österreicherinnen und Österreicher leisten bei der Betreuung von Flüchtlingen beispielhafte Hilfe. Das gilt auch für Polizei, Bundesheer, ÖBB und viele andere öffentliche Einrichtungen, auf die wir sehr stolz sein können.
Es ist mir ein Anliegen, gerade auch heute, am österreichischen Nationalfeiertag allen zu danken, die bereit sind, sich in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.
Vergessen wir nicht, dass jedes Land und jeder Mensch im Laufe der Geschichte in eine Situation kommen kann, in der man auf die Hilfe anderer angewiesen ist.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.